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Ortswechsel 2

Es sind viel mehr Menschen zu Fuß unterwegs und mit einer größeren Dringlichkeit als vor Corona.

Oft als mobile Zweisamkeiten oder auch allein, mit Kind, Kegel und Hund und manchmal doch als Kleingruppe, heimlich.

Und sobald die Lage es zwischendurch zuläßt, verlassen wir unseren Ort. Schnell, mal kurz, trotz des mulmigen Gefühls.


Denn wie damals in den frühen 80ern "die Tante", eine Größe der Queeren Subkultur von Thessaloniki, zu sagen pflegte: "Wenn Du raus gehst, findest Du etwas zu essen. Wenn Du drin bleibst, kommt etwas raus und ißt Dich".

Die gute, weise Tante.


 

Always – Alex Bialas

Spazieren um die Seele zu lüften und die Gedanken zu ordnen, Spazieren als Sport, als Meditationsart, als Entdeckungsreise, Spazieren als Kommunikation on the Go. Bei jedem Wetter, auf jeden Fall.


 

Kai

Text: Katrin Jäger-Matz | Fotos: Judith Adam

Es war ein heißer Tag, die Sonne knallte durchs Waggonfenster. Die Menschen atmeten schwer hinter ihren Masken. Obwohl der Großraumwagen voll besetzt war, war es still. Räusperte sich jemand, drehten die anderen die Köpfe reflexhaft zur Seite. Kein Servicewagen mit frischem Kaffee, essen und trinken wurden auf das Nötigste reduziert. Niemand fuhr gern Zug in diesem Corona Sommer, niemand außer Kai. Als das Virus das Leben hatte erlahmen lassen, war Kai wieder zu sich gekommen. Ein Jahr zuvor hatte sich die Faust in ihrem Magen gelöst, die Angst, die sie eingeschlossen hatte, war in jede Körperzelle geschnellt, in ihren Ohren rauschte und klingelte es. Kai konnte nicht mehr lesen, nicht stillsitzen, nicht essen und – das war das Schlimmste – nicht mehr schlafen. Nacht um Nacht hatte sie im quälenden Dämmerzustand zugebracht. Und nun hatte der Zug die Elbbrücken überquert ohne dass Kai auch nur den Anflug einer Panikattacke gehabt hatte.

Sie genoss die Fahrt, und mehr noch genoss sie das Gefühl des Genießens. Als sie am Münchener Hauptbahnhof ausstieg, hielt sie nach dem Anschlusszug Ausschau, wissend, dass sie es war, die dies tat. Das mag banal klingen, doch ihr müsst wissen, dass Kai dieses Wissen verloren hatte. Eines Morgens, während ihres ersten Klinikaufenthalts, sprang sie aus dem Bett, rannte ins Dienstzimmer und stammelte „ich weiß nicht mehr, wer ich bin!“ Die Schwester schaute sie unverwandt an und meinte, doch, Sie wissen wer Sie sind, Sie sind Kai Kistner. Sie verabreichte ihr ein starkes Beruhigungsmittel und schickte sie zurück ins Bett. Die Daten aus ihrem Pass hätte Kai auch runterbeten können, darum ging es nicht. Irgendwelche Transmitter in ihrem Gehirn hatten ihre Tätigkeit ein- und die gefühlte Ichgewissheit abgestellt. So ähnlich muss es sei, wenn sich das Ich im Sterbeprozess auflöst, dachte Kai. Von nun an schaute sie oft in den Spiegel, um sich ihrer Existenz zu vergewissern. Monatelang tat sie das, bis ihr Ichgefühl zaghaft erwachte, anfangs dumpf, dann immer intensiver. Doch jemals wieder lachen zu können, daran glaubte sie nach wie vor nicht. Früher war das Lachen wie ein Vulkan aus ihr herausgebrochen, hatte ihren Mund aufgerissen und sie durchgeschüttelt bis die Bauchmuskeln schmerzten. Nun war Freude nicht mehr als ein leises Glimmen im Magen. Trotzdem zog sie die Mundwinkel hoch, in der Hoffnung, dass das Hirn dadurch mehr Glückshormone ausschüttete. So auch, als sie ihren Anschlusszug Richtung Kufstein gefunden hatte.

Sascha empfing Kai am Bahnhof mit Ellenbogencheck. Ihr kleines Auto arbeitete sich die Serpentinen hinauf, Saschas Hütte lag direkt an der Grenze zu Österreich. Sie gingen in ein Restaurant auf der österreichischen Seite, dort bestand in diesem ersten Corona Sommer keine Maskenpflicht. Sie tranken Bier und redeten bis in die Nacht. Darüber wie Sascha Kai vor einem Jahr in Hamburg besucht hatte, wie sie ein Wochenende lang Kais Wohnung geputzt hatte, während Kai wie ein Aufziehmännchen hin und her gerannt war, „ich kann nicht mehr!“ und „Mama!“ stammelnd, solange, bis Sascha ihre Hand genommen hatte. Sie waren an die Elbe gehastet, runter nach Övelgönne, vorbei an der Strandperle und an Teufelsbrück. Kurz vor Blankenese pausierten sie in einem Strandcafé. Kai hatte den Apfelkuchen in sich hineingestopft, hatte aufspringend fast das Geschirr vom Tisch gerissen und war weiter gestürmt. Erst im Winter, während ihres dritten Klinikaufenthaltes, hatte sie Momente innerer Ruhe erlebt. Kurz darauf kam der Lockdown. Weniger Autos, weniger Menschen, weniger Hektik. Während andere Angst hatten sich anzustecken, krank wurden oder starben, trug die Entschleunigung des gesellschaftlichen Lebens zu Kais Genesung bei. Sie nahm einen Schluck Bier, griff Saschas Hand und seufzte. Sascha zog die Hand sachte zurück und kramte das Wanderbuch aus der Tasche. „Na, dann wollen wir mal schauen wo es morgen hingeht!“

Als Kai später in der Dachgaube im Bett lag, sah sie durch das offene Fenster die Berge sich scherenschnittartig gegen den sternenklaren Nachthimmel abheben, das Rauschen in ihren Ohren vermischte sich mit dem Zirpen der Zikaden im Garten. Morgen würden sie und Sascha den ersten Gipfel besteigen. Was für ein Geschenk, dachte sie, und schlief ein.

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